Eine Frage der Macht. Zur Re-Definition universitärer Disziplinen

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Marie-Luise Angerer *

Sehr geehrter Herr Wissenschaftsminister! Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich denke, daß sich die Lage der Universitäten, der Wissenschaft insgesamt - aufgrund ökonomischer und anderer Gewalten - derart zugespitzt hat, daß der Blick sich notwendigerweise in dieser Situation nicht mehr verschließen kann - und auf sich selbst zurückfallen sollte. Doch wohin fällt der Blick, wenn er innerhalb des universitären-akademischen Betriebs auf sich zurückfällt? Er sieht unterschiedliche Disziplinen, unterschiedliche Fächer, die den Diskurs der Wissenschaft ausmachen. Wird das Gesamtgebäude dieser Wissenschaft - wie gegenwärtig - angegriffen, wird der Blick mehr als sonst gezwungen, tiefer zu blicken - und dann wird möglicherweise sichtbar, was dem Feld der Wissenschaft zugrundeliegt: - seine Einteilung erweist sich als eine Frage der Macht, als eine Frage machtvoller Grenzziehungen. Diese machtvollen Grenzziehungen stellen sich also bei genauerer Betrachtung nicht als Naturgesetze oder logische Entwicklungen, sondern als Einteilungen, Zuordnungen und Bestimmungen heraus, deren Ergebnis, deren Effekt sich historisch analysieren läßt als Wille zum Wissen und dessen Wissens-Formationen spezifische Subjekte des Wissens generiert. Das heißt, diese sind gleichzeitig sein Effekt und seine Produzenten. Und es sind Subjekte, die bis vor noch nicht allzu langer Zeit mehr oder weniger ausschließlich männlichen Geschlechts und weiß waren. Soviel als Einleitung.
Lassen Sie mich meine Ausführungen mit einem konkreten Beispiel beginnen:
Die Publizistik und Kommunikationswissenschaft - mein eigener Hintergrund - wir haben in Österreich 2 Institute - nämlich in Salzburg und Wien - gehört in Salzburg der geisteswissenschatlichen Fakultät, in Wien jedoch der grund - und integrativwissenschaftlichen Fakultät an. In Salzburg haben die Publizisten und Kommunikationswissenschafter sich mit den Musikwissenschaftern, Sprachwissenschaftern, Altgermanisten und Altertumsforschern um Stellen und Gelder zu raufen, in Wien streiten sie hingegen mit den Soziologen, mit den Philosophen, mit den Wirtschaftshistorikern u.a.m.
Gut, werden Sie sagen, überall streiten sie, und der Streit wird zukünftig nur noch brutaler werden.
Weshalb ich mit diesem Beispiel begonnen habe, hat jedoch folgenden Grund. Der Kampf oder der Streit - die Trennung - geht tiefer.

Michel Foucault hat in seinem Buch "Die Ordnung der Dinge" eine nach wie vor faszinierende Geschichte des Wissens vorgelegt, in der er das Auftauchen des Menschen als Objekt der Wissenschaft und die damit verknüpfte Formierung der Biologie, der Sprachwissenschaft und der Ökonomie beschreibt. Nicht nur haben sich die uns vertrauten Disziplinen in einem machtvollen Wissenskomplex formiert, sondern der Mensch als Untersuchungsgegenstand der sich generierenden Humanwissenschaften hat diesen Menschen erst bedingt, in dieser spezifischen Wissensweise erst hervorgebracht - und in leicht melancholischem Ton hat Michel Foucault auch am Ende seines Buches in Aussicht gestellt, daß dieser Mensch möglicherweise auch wieder verschwinden wird - wie Spuren im Sand. Damals - also vor gut 200 Jahren, als der Mensch "entdeckt" wurde in seiner Positivität, war es ihm gestattet, wie Foucault schreibt, zwei Rollen zu spielen: Er war gleichzeitig die Grundlage aller Positivitäten und auf eine Art, die man nicht einmal als priviligiert bezeichnen konnte, im Element der Dinge präsent. Der Mensch wurde das, von wo aus jede Erkenntnis in ihrer unmittelbaren und nicht problematisierten Evidenz gebildet werden konnte. Er wurde aus viel stärkerem Grunde das, was die Infragestellung jeder Erkenntnis des Menschen gestattete. Daher - und hier bin ich wieder bei meinem Ausgangsbeispiel angekommen - daher also die unaufhörliche Auseinandersetzung zwischen den Wissenschaften vom Menschen und den Wissenschaften schlechthin, wobei die ersteren die unüberwindliche Prätention besitzen, die zweiten zu begründen, die unaufhörlich zur Suche nach ihrer eigenen Grundlage, der Rechtfertigung ihrer Methode oder der Reinigung ihrer Geschichte, gegen den "Psychologismus", gegen den "Soziologismus", gegen den "Historizismus" gezwungen sind; und die ständige Auseinandersetzung zwischen der Philosophie, die den Humanwissenschaften ihre Naivität vorhält, mit der sie sich selbst zu begründen versuchen, und jenen Humanwissenschaften, die als den ihr eigenen Gegenstand das beanspruchen, was einst das Gebiet der Philosophie gebildet habe. Soweit Foucault - und Sie werden gleich sehen, wie höchst aktuell diese seine Beschreibung ist.
Gleichzeitig mit der "Entdeckung" des Menschen und der Etablierung oder Anordnung der Wissenschaften um ihn, hat sich eine Leere in seinem Innersten ausgebreitet, festgemacht, eine Leere, die als Seele, Wahrheit oder Sinn in der Folge gefaßt worden ist. Und um diese Außen- und Innenseite des Menschen gruppieren sich nun die jeweiligen Disziplinen - die sich heute in einen tiefgreifenden Transformationsprozeß eingebunden vorfinden. Die Frage nach dem Menschen und seiner Wissenschaften stellt sich erneut - nun jedoch innerhalb sehr veränderter Rahmenbedingungen.
Und ich komme nun wiederum auf mein eingangs zitiertes Beispiel der Kommunikationswissenschaft zurück. Selbstverständlich geht es mir nicht um die in unterschiedlichen Disziplinen positionierten Streitgenossen im Hinblick auf die Frage der Geldverteilung, sehr wohl geht es mir jedoch um die Frage der Wissensverteilung und deren Bewertung in einem gesellschaftlchen Ganzen. Und dabei könnten - ich verwende hier sehr bewußt den Konjunktiv - Fächer, in deren Mittelpunkt die Kommunikation stehen (sollte), eine zentrale Rolle spielen.
Vilém Flusser, Vordenker und Praktiker einer Kommunikologie, hat den Aufstieg von Kommunikationsschulen über all auf der Welt in seiner ambivalenten Hintergründigkeit gedeutet. Denn wenn das, was die Philosophie einstmals leistete, heute von den Technikern der Kommunikation übernommen wird, wenn das, was die Physik als Grundlagenwissenschaft einmal darstellte, heute an die Biologie abgetreten worden ist, und wenn diejenigen, die sich einmal für das Unbewußte Sigmund Freuds stark machten, besser so rasch wie möglich auf den Zug zur Erforschung des Bewußtseins aufspringen, dann läßt sich einfach behaupten, daß die Frage nach dem Menschen und seinen Wissenschaften inmitten eines symptomatischen Entwicklungsprozesses steht, eines Prozesses, dessen Dimension Vilém Flusser als technoimaginär bezeichnet hat. Denn, wie er weiter hierzu ausführt, der Aufstieg der Kommunikationsschulen zeigt uns, daß wir uns inmitten einer Kulturrevolution befinden. Selbstredend sind diese Schulen nur Symptome, welche die Umwälzungen in den Strukturen unserer Kultur sichtbar machen. Man kann an den Schulen sehen, um welche Umwälzungen es sich da handelt. Die technische Entwicklung der letzten hundert Jahre hat neue Kommunikationsmedien geschaffen, welche auf Codes beruhen, die ganz anders als der alphabetische Code funktionieren. Da der alphabetische Code weitgehend die Kultur der Neuzeit strukturierte, da die moderne Kultur weitgehend eine Pressekultur war, bedeutet das Verdrängen des Alphabets durch neue Codes eine grundlegende Umwandlung der kulturellen Lage. Wenn ein Code durch einen neuen, anderen ersetzt wird, bedeutet dies, daß die Welt eine neue Bedeutung gewinnt und das Dasein in ihr andere Formen. Will man die Veränderungen begreifen, muß man das Wesentliche erfassen, und dieses ist eben die Veränderung der Kommunikationsart. Darum, so Flusser, bildet die Theorie der Kommunikation eine Art Brennpunkt der theoretischen Überlegungen hinsichtlich unserer kulturellen Lage. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß ihr jene Rolle zukommt, die früher die Philosophie spielte. Allerdings - und vielleicht sehen Sie jetzt den Grund, weshalb ich mit den zwei in Österreich agierenden kommunikationswissenschaftlichen Instituten als symptomatisches Beispiel begonnen habe - allerdings, so nämlich Flusser, ereignet sich die Kommunikationstheorie in einem ziemlich unphilosophischen Klima. Und dies nicht, weil KommunikationswissenschafterInnen unphilosophisch sind, sondern weil die Kommunikationswissenschaft insgesamt auf die eine Seite ihrer Bestimmung driftet - auf die technisch-machbare, in der die Fragen nach Bedeutung, Macht und Begehren auf radikale Weise ausgeblendet bleiben müssen. Ich werde die Kommunikationswissenschaften weiter als Beispiel zitieren, nicht, weil sie ein besonderes Manko aufzuweisen hätten, sondern weil sich an ihnen Symptomatisches manifestiert, welches auch für andere Disziplinen - wenn auch nicht immer in gleichem Ausmaß - zutrifft.

Doch zuvor ein paar allgemeine Bemerkungen zur Situation der universitären Kultur:
Western culture is in the middle of a fundamental transformation; a shape of life is growing old. The demise of the old is being hastened by the end of colonialism, the uprising of Women, the revolt of other cultures against white Western hegemony, shifts in the balance of economic and political power within the world economy, and a growing awareness of the costs as well as the benefits of scientific and technological progress. (Flax 1990, 5)
Dieses Zitat der USamerikanischen Philosophin und Psychoanalytikerin, Jane Flax, beschreibt all jene Momente, die die zwei Bewegungen mit den - epistemologisch sowie politisch - weitreichendsten Konsequenzen der letzten zwanzig Jahre, was die intellektuellen und universitären Kulturen der westlichen kapitalistischen Welt betrifft, bestimmt haben: Postmoderne und Feminismus. Beide haben in ihrer Kritik an den "großen Erzählungen" (J.-F. Lyotard) der Aufklärung und Moderne ihre Gemeinsamkeiten entdeckt und sind in der Folge gern (vor allem in den USA) als "Bruder und Schwester" zelebriert worden. Zunächst einmal können sicherlich überzeugende Parallelen in ihren Anliegen und ihrer Kritik benannt werden. "Als Kategorien der Gegenwart entwerfen sie Denkmodelle der Zukunft und Bewertungen der Vergangenheit", wie Sheila Benhabib schreibt. Beide würden - so die USamerikanische an der Frankfurter Schule orientierte Philosophin weiter - mit unterschiedlichen Toden arbeiten, die durchaus als Pendants gefaßt werden könnten. So entspreche dem Tod des Menschen die feministische "Entmystifizierung des männlichen Subjekts der Vernunft", dem Tod der Geschichte könne die "Einschreibung der Geschlechterdifferenz in die historische Erzählung" zur Seite gestellt werden, und dem Tod der Metaphysik schließlich entspreche die "feministische Skepsis gegenüber den Ansprüchen der transzendentalen Vernunft". (Vgl. Benhabib 1993, 9-12)
Doch Postmoderne und Feminismus haben inzwischen ihre je eigenen Auslassungen, die Produktion ihres je eigenen Anderen wahrnehmen müssen. Denn in ihrer Dekonstruktion binärer Oppositionen, in ihrem Projekt einer Genealogie metaphysischer Wahrheiten, wodurch ein Brüchigwerden von naturalisierten Differenzsetzungen - wie Natur - Kultur, öffentlich - privat, Hochkultur - Populärkultur, Mensch - Maschine, Körper - Geist, männlich - weiblich eingeleitet worden ist, haben sich neue, totalisierende Bestimmungen etabliert, deren Kritik in den letzten Jahren zu einschneidenden Blickverlagerungen führte.

In dieser nun sowohl theoretisch als auch praktisch veränderten Situation ist ein Projekt, eine Bewegung in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum aufgetaucht - unter dem Schlagwort oder der großen Überschrift Cultural Studies. Ich will hier keine Deskription dieser Bewegung geben, ich will sie auch auf gar keinen Fall als die neue Wissenschaftsdisziplin hinstellen, sondern ich möchte nur den Kern ihres Selbstverständnisses benennen, der die Schwierigkeit universitären Agierens heute sehr deutlich werden läßt.

Cultural Studies, wie sie sich in den 60er Jahren in Birminghman zu formieren begonnen haben, steht für theoretisches Arbeiten in den unterschiedlichsten Disziplinen: u. a. Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Literatur, Medien-, Kommunikations- und Erziehungswissenschaften, Frauen- bzw. Geschlechterforschung. Radikale Kontextualität, Interdisziplinarität, Selbstreflexivität, anti-essentialistisch, politische Motivation, Ansatz im täglichen Leben sind diejenigen Momente, die nach Lawrence Grossberg die Cultural Studies wesentlich bestimmen. Es sind auch diejenigen, die für feministische Theorien geltend gemacht werden können. Die feministische Theoriebildung und Forschung hat innerhalb dieses Rahmens eine sehr bedeutende Rolle gespielt bzw. spielt sie heute noch. Cultural Studies sind - um gleichzeitig auch auf ihre eigene widersprüchliche Positionierung aufmerksam zu machen - "aktiv und aggressiv anti-disziplinär" (Grossberg 1992, 1 f.), das heißt, es handelt sich eigentlich um eine intellektuelle Haltung und Verantwortlichkeit (im Sinne Antonio Gramscis), die sich ihrer eigenen Macht bewußt ist, ihre eigenen kulturellen Kategorien hinterfragt und im "Verstehen, was das Leben zutiefst unmenschlich macht", bestrebt ist, dagegen politisch zu handeln. (Grossberg) Derzeit läßt sich im deutschsprachigen Raum eine durchaus intensive Fokussierung auf Cultural Studies feststellen, verknüpft auch mit einem hohen Anteil von Studierenden, die an Geschelchterforschung intererssiert sind. Die Wissenschafter und -innen, die dies betreiben, produzieren dabei in den unterschiedlichsten Disziplinen - ich persönlich habe derzeit mehr Kontakte mit LinguistInnen in Deutschland denn mit Medien- und KommunikationswissenschafterInnen, was, wie sie noch hören werden, nicht sonderlich erstaunlich ist. In den USA und Australien wäre meine disziplinäre Zuordnung kein Problem, dort würde ich in ein Department of Cultural Studies ohne Probleme passen. Anders die Situation hier - aus den unterschiedlichsten Gründen. Ich möchte mit diesem Verweis auf die persönliche Situation allerdings eine Gesamtsituation ansprechen, die zunehmend mehr wissenschaftlich arbeitende, intellektuelle Menschen betrifft und betreffen wird. Denn die disziplinären Grenzen sind mittlerweile eng geworden, um den Anforderungen, Erkenntnisinteressen zu genügen. Doch wie wird der Kampf ausgetragen? In welche Richtung scheint sich das Ganze zu bewegen? Und hierbei bin ich weniger optimistisch angesichts der derzeit stattfindenden Umstrukturierungen sowohl in Österreich als auch Deutschland. Ich würde sagen, die disziplinären Grenzen werden enger gezogen, der Gürtel wird im wörtlichsten Sinn enger geschnallt, die Abwicklung der Lehre wird aus den eigenen Reihen gefordert, Fachnähe, Abschottung und Differenzsetzungen sind geforderte Haltungen. Jene Menschen, die sich an den Rändern der Disziplinen bewegt haben im Sinne ihrer Ausfransung - wie feministische Forschung, alternative Kulturforschung, Filmtheorie usw. droht der Ausschluß - die innere Verarmung universitärer Lehre und Forschung wird dadurch nur einmal mehr forciert.
Nun, denken Sie nochmals an die von mir ins Spiel gebrachten Kommunikationswissenschaften, und denken Sie auch an die technologischen Entwicklungen, wie wir sie inzwischen mit den Schlagworten Informationsgesellschaft und Gentechnik gelernt haben.
Und ich meine den Gedanken, daß der Mensch, wie ihn das 18. Jahrhundert hervorgebracht und das 19. definiert hat, möglichweise als Spur im Sand zu verschwinden droht, nicht nostalgisch. Sondern ich möchte den Blick darauf lenken, wie und wodurch der Mensch des beginnenden 21. Jahrhunderts seine neue Position im Feld der Wissenschaften beziehen wird. Die Frage lautet also, wer definiert wie und weshalb vor welchem Hintergrund? Was ist denkbar und was nicht, was wissenschaftlich und was nicht? Wer bestimmt, wo die Grenze zwischen den sogenn. Natur - und den Geisteswissenschaften zukünftig gezogen wird?
Und in dieser Neudefinition spielen die bio- und kommunikationstechnologischen Entwicklungen - wenn auch nicht immer gleich auf den ersten Blick sichtbar - eine entscheidende Rolle. Nicht nur droht der Diskurs über die Neuen Technologien in einem neuen (= alten) imperialistischen Gestus das Alte ingesamt für obsolet zu erklären, sondern auch die Zukunft wird in derselben Monolinearität gewaltsam, autoritär entworfen. Als "contested zones" hat Zoë Sofoulis diese Zukunft einmal bezeichnet und damit auf den Kampf um Redefinition und Restrukturierung innerhalb unterschiedlicher, kulturell-politischer Felder aufmerksam gemacht.
Doch nicht nur die Unterordung zentraler Fragen wie diejenige nach dem "Denken des Menschen" unter den Zwang des Faktischen, des technischen Fortschreitens ist es, was diesen Diskurs auszeichnet. Sondern vor allem die durch ihn implementierte Neu-Ordung der Dinge, um Michel Foucaults "Ordnung der Dinge" nochmals entsprechend abgewandelt ins Spiel zu bringen, sollte im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzung stehen, was jedoch nicht der Fall ist.
Im Mittelpunkt steht vielmehr die Neustrukturierung des Gesellschaftlichen durch eine neue Kommunikationsordnung (Internet, Konvergenz aller Medien) sowie diejenige der "Natur" (inklusive jene sogenn. menschliche Natur) durch den Einsatz biotechnischer Entwicklungen. Doch ein genauerer Blick auf die Geisteswissenschaften und Kulturforschung macht deutlich, wie sehr diese an diesem "Fortschritt" mit ihren Diskurs-Produktionen beteiligt sind.
Das heißt, ganz im Sinne Foucaults und seiner Episteme muß das "Auftauchen" der Neuen Bio- und Kommunikationstechnologien in ihrer Gesamtdisposition gesehen werden, und innerhalb dieser verändern sich wesentliche Paradigmen, was das "Denken des Menschen" betrifft.

Die USamerikanische Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway hat einmal angemerkt, daß die Figuration des cyborg - eines halb biologischen, halb elektronischen Wesens - dann auftaucht, wenn zwei Grenzen brüchig zu werden drohen, die zwischen Tier und Mensch und diejenige zwischen unterschiedlichen kybernetischen Organismen. Ganz offensichtlich befinden sich die westlichen oder 1.Welt-Gesellschaften in derartigen Transformationsprozessen, die Natur und Kultur auf neue Weise zueinander in Beziehung setzen und damit die Frage nach dem "menschlichen Subjekt" auf- und angreifen. Es genügt also m. E. nicht oder ist irreführend, den kritischen Blick immer nur auf die Technikentwicklung und ihren positiven oder repressiven Charakter zu richten, denn die geisteswissenschaftlichen, kulturtheoretischen Diskurse sind von den technisch-medizinisch-ökonomischen nicht wirklich zu trennen. Der cyborg, der in der Sci-fi-Literatur herumgeistert, bewohnt auch das MIT, beschäftigt die Medizin bereits seit langem, allerdings auch inzwischen zahlreiche humanistische Diskussionen und Abhandlungen. Die Entthronisierung des Subjekts, wie sie das 20. Jahrhundert in mehrfacher Hinsicht (Psychoanalyse, Strukturalismus und Poststrukturalismus) weitergeführt und vorangetrieben hat, findet in der Inthronisierung des genetischen Codes keine Entsprechung, jedoch eine Legitimation, der das Dasein in der Welt und dessen Bedeutung im Sinne Vilém Flussers verändern wird können. Der genetische Code in seiner Informationsfunktion hat sich längst schon ins elektronische Netz übertragen, um von hier aus wiederum spezifische kulturelle Codes und Ikonen zu stimulieren, in deren Zentrum nicht mehr unbedingt der Mensch steht, wie ihn Michel Foucault vor 200 Jahren "heraufdämmern" sah, sondern mehr derjenige, der auf seine Verschiebung verweist. Und damit meine ich nicht das neue ewige Leben, von dem Hans Moravec oder Marvin Minsky träumen, indem wir unser Gehirn auf Festplatten speichern, sondern ich meine damit grundlegende Verschiebungen in der Kommunikation, und dies eben nicht nur im streng technischen Sinn.
Die Kommunikationswissenschaft, um mit ihr nun auch das Ende meiner Ausführungen zu bestreiten - mit ihrem Spagat zwischen einer philologischen und soziologisch-technischen Positionierung - kann als Indikator einer Entwicklung betrachtet werden, einer Entwicklung, in der das Denken des Menschen vielfach unterhöhlt wird. Unter dem Diktat ihrer Verwertbarkeit verliert sie zunehmend die Bilder aus ihren Augen - und mit Bildern meine ich nicht nur die Medienbilder in ihrer konkreten Gestalt der Film-, Fernseh- und Video-Bilder, sondern ich meine damit - was die anderen Fächer genauso betrifft - die Bilder, in denen wir uns unsere Welt denken. Und die Möglichkeit, sich damit zu beschäftigen als jene Dimension, in der sich Identitäten als imaginäre fixieren. Schlicht und einfach, das Fragen nach der Bedeutung und ihrer Grenzen sollte stets strukturierendes Element in einer Neu-Ordung der Dinge sein.
Oder um mit einem Gedanken Sam Webers zu schließen:
The future of the humanities may well depend on the capacity of society to admit and accept the fictionality of what it assumes to be real, as well as the reality of its fictions.

Vielen Dank.

* Univ.Doz. Dr. Marie-Luise Angerer ist externe Lektorin an den Instituten für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universitäten Wien und Salzburg.

** Der Vortrag fand im Rahmen des Symposions "20 Jahre BUKO, 20 Jahre Mitbestimmung. Hochschulpolitische Analysen und Utopien" am 22. Mai 1997 an der Akademie der bildenden Künste (Semper-Depot) statt. (Programm: Rektor Carl Pruscha - Begrüßung, BUKO-Vorsitzender Kurt Grünewald - Anstelle einer Begrüßung, BM Caspar Einem - Eröfffnung, Dozentin Marie-Luise Angerer - Eine Frage der Macht. Zur Re-Definition universitärer Disziplinen, Professor Joachim Treusch - Umbruch oder Aufbruch. Die deutsche Forschungslandschaft im Wandel, Professor Christoph Richter - Von der heilsamen Beunruhigung des Studierens durch die Kunst oder wie wir der gesellschaftlichen Domestizierung von Kunst entgehen können, Professor Jutta Menschik-Bendele - Bewußtes und Unbewußtes in der Leistungsgesellschaft.) Im Publikum waren anwesend unter anderen BM a.D. Rudolf Scholten, Sektionschef Sigurd Höllinger, Ministerialrätin Ingrid Schäfer, ehem. GÖD-Hochschulsektion-Vorsitzender Gerhard Windischbauer, ProKo-Vorsitzender Johannes Koder, Dozentenverband-Vorsitzender Hans-Ludwig Holzer und andere Vertreter hochschulpolitischer Organisationen.